von Anne Sophie Winkelmann

In diesen Tagen verbringen viele Menschen viel Zeit mit Kindern zu Hause. Mehr Zeit als jemals zuvor vielleicht. Und es ist unklar, wann alle wieder ihren eigenen Alltag aufnehmen können, ihre Eltern, Freund*innen und Arbeitskolleg*innen sehen und ihre Bedürfnisse auf gewohnte Weise erfüllen können. Die Aussicht auf noch uneinschätzbar viele weitere Momente geteilter Zeit ohne Fluchtmöglichkeiten treibt so manche Person ein bisschen in den Wahnsinn.

Das Zusammenleben mit Kindern bringt viel Lebendigkeit, Gefühle und Auseinandersetzungen mit sich. Und es ist wahrscheinlich, dass es in diesen Tagen häufiger zu Konflikten kommt, zu Explosionen, zu ganz großen Gefühlen, weil diese endlich mal Platz haben!

Ich stelle mir das gerne bildlich vor, wie sich diese Gefühle und dahintersteckenden Themen im regulären, vollgepackten Alltag oft nur andeuten konnten, gerade mal kurz „Hallo“ sagten und dann bewusst oder unbewusst umschifft oder unterdrückt wurden. Vielleicht weil jetzt doch gerade der schöne Ausflug stattfindet oder es Zeit ist, ins Bett zu gehen oder ich so erschöpft bin vom eigenen Arbeitstag, dass ich nichts gegen die dritte Folge der Serie sage.

In Corona-Zeiten ist mehr Platz und Zeit für den Ausbruch unerfüllter Bedürfnisse und die angestauten Gefühle – glücklicherweise!

Alles, was uns in Situationen mit den Kindern gerade so unglaublich anstrengt und herausfordert ist eine Chance! Wenn wir das so betrachten können und es uns gelingt, in Kontakt zu kommen, mit dem, was wirklich dahinter steckt, können wir den Kampf verlassen, die Knoten lösen und zulassen, dass sich unsere Beziehungen zu den Kindern verändern.

Es geht dabei um ein Hinwenden zu dem, was gerade im Moment in den Kindern lebendig ist. Dem Raum zu geben, was da ist und den Prozess zu begleiten. Und das heißt keineswegs, immer nur geduldig, ruhig und gelassen zu reagieren. Es heißt vor allem authentisch zu sein und auch das ernst zu nehmen, was in mir ausgelöst wird – ohne dem Kind die Schuld dafür zu geben!

Ein solcher hier nur ganz kurz angedeuteter Umgang widerspricht dem klassischen Erziehungsanspruch und dem, was die meisten von uns selbst im Aufwachsen erlebt haben, in vieler Hinsicht. Und es bedeutet ein Aussteigen aus dem bewertenden, korrigierenden, besserwissenden Erwachsensein, was sich so leicht einschleicht, auch wenn wir doch ganz anders sein wollten.

Wer Lust hat, sich auf diese Endeckungsreise zu begeben, kann vielleicht das Buch „Machtgeschichten – Ein Buch für Kinder über das Leben mit Erwachsenen“ mitnehmen. Darin sind sechs (Vorlese-)Geschichten, die mögliche Umgangsweisen von Erwachsenen mit herausfordernden Situationen mit Kindern thematisieren und die Auswirkungen für die Kinder und den Kontakt untereinander aufzeigen.

Von der anderen Seite her gelesen ist das Buch ein „Fortbildungsbuch zu Adultismus für Kita, Grundschule und Familie“ mit vielen Hintergrundtexten und Anregungen für einen gleichwürdigen Umgang mit Kindern.

Weder im Kinderbuch noch im Fortbildungsbuch geht es darum, etwas „falsch“ oder „richtig“ zu machen. Vielmehr ist es eine große Einladung zum neugierigen Fragen nach dem für mich und die Kinder stimmigen Weg und meinem eigenen Beitrag zur Unterbrechung der scheinbar immer noch selbstverständlichen Dominanz der Erwachsenen gegenüber Kindern.

Im eigenen Tempo und mit unserem jeweiligen biografischen Gepäck.

Diese Corona-Zeit außerhalb des regulären Alltags ist eine Möglichkeit, Schritte zu machen, die vielleicht sonst niemals möglich wären. Genauso wie der Blick in die hinterste Kiste unter dem Bett oder im Keller.

 

Herausgeber: Deutsches Rotes Kreuz Generalsekretariat
Autorin: Anne Sophie Winkelmann
Gestalterin: Gaëlle Lalonde
ISBN: 978-3-98188-835-5
Seiten: 204
Preis: 15,00 Euro

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