Eine Weihnachtsgeschichte nach wahren Begebenheiten von Prof. Eberhard Görner.
In Freiberg freuten sich die Kinder über den vierten Advent, denn dann sind es nur noch ein paar Tage bis der Weihnachtsmann an ihre Tür klopft. Aber an diesem vierten Advent, im Jahre 1732, zieht nicht der Weihnachtsmann an der Türglocke des Orgelbauers Gottfried Silbermann, sondern der Ratszimmermann George Bähr.
Mit Pferd und Schlitten hat er am Morgen das unter Schnee versunkene Dresden in aller Frühe verlassen, um noch vor Abend in Freiberg zu sein. Es ist kalt, und es schneit. Die Schneeflocken tanzen wie ein russisches Ballett wild um ihn herum. Aber George Bähr hat vorgesorgt. Ein dicker Pelz und Mütze schützen ihn vor Kälte. Seine Handschuhe sind gut gefüttert. George Bähr genießt die frische Winterluft und denkt keine Sekunde daran, dass er in drei Jahren schon siebzig Jahre alt wird. Denn seine Seele hat Grund zur Freude. Eine Freude, die er in den Augen vom hochverehrten Freund, Gottfried Silbermann, dem Freiberger Orgelbauer, unbedingt persönlich erleben will. Sein Pferd, ein junger Wallach, trabt munter durch den Schnee. Bährs Schlitten fliegt dahin und in die aufgehende Sonne ruft er: „Wohin ich auch gehe, mein Herr und Gott. Ich lege meine Zeit in deine Hände!“
Gottfried Silbermann kann es nicht fassen, wer da mit Pferd und Schlitten steht, vor seiner Orgelwerkstatt, nahe dem Schloßplatz. „Um Himmels Willen, George, was treibt dich bei diesem Wetter nach Freiberg?“
Bähr strahlt ihn an und sagt geheimnisvoll: „Ich bringe dir ein Weihnachtsgeschenk!“ Damit kann der 49 Jahre alte Gottfried Silbermann nun gar nichts anfangen. Deshalb packt er Bähr an seinem Pelzmantel, zieht ihn durch die Tür und fordert ihn auf: „Nun komm endlich rein. Wir wollen ja nicht erfrieren.“
Silbermann bringt einen Zinnkrug, dazu zwei Becher, in welche er dampfenden Glühwein gießt. Er lacht Bähr an: „Du müsstest mal deine Nase sehen. Sie ist so rot wie das Feuer in meinem Kamin.“ Bähr lacht zurück, trinkt vorsichtig, aber genussvoll, den heißen nach Zimt schmeckenden Wein und droht: „Wenn meine Nase rot vor Kälte ist, deine Wangen werden gleich glühen, wenn ich dir dein Weihnachtsgeschenk vorlese.“
Silbermann setzt sich zu Bähr an dem rohen Holztisch, auf dem zwei Kerzenleuchter das Zimmer erhellen. Er sieht Bähr neugierig an und drängelt: „Nun mach es nicht so spannend, George. Warum hast du heute den weiten Weg zu mir gewagt?“
Bähr setzt in aller Ruhe seinen Zinn-Becher ab und holt aus seiner alten, verbeulten Ledertasche einen großen Brief, welchen er vorsichtig öffnet, um ihm ein mehrblättriges Pergament zu entnehmen. Er schaut Freund Silbermann freundlich an, welcher immer noch nicht weiß, was ihn jetzt erwartet. Bähr zieht sich einen Leuchter heran, damit er die Schrift besser sehen kann. Gottfried Silbermann überfällt plötzlich Aufregung. Sein Herz schlägt schneller, als George Bähr die ersten Worte liest: „Im Namen Gottes sei hiermit kund und zu wissen: Demnach bei der neuerbauten Kirche zur l. Frauen allhier ein neues Orgel-Werk zu erbauen, daher die Notdurft erfordert, weil das in der Alten Kirche gestandene Werk, sowohl des Altertums halber, als auch wegen der ganz veränderten Struktur der neuen Kirche unbrauchbar geschienen: Als ist zwischen E. Hoch. Edl. und Hochw. Rate der Stadt Dresden, an einem, dem Hof-und Land Orgelbauer, Herrn Gottfried Silbermann, zu Freiberg, und dessen bei ihm in Arbeit stehenden Vetter, Herrn Georg Silbermannen, anderen Teils, nachfolgender Contract darüber abgehandelt, und geschlossen worden. Nehmlich – Es versprechen obbemelde beide Herr Silbermänner, demnach samt und sonders, ein ganz neues Orgel-Werk in vorbesagter Kirche über den Altar, nach darauf gesetzten und hier folgenden Disposition, als …“
Gottfried Silbermann hält es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er stürzt sich auf Bähr, küsst ihn auf seinen grauen Bart und ruft: „George, du bist der Größte, Du hast es geschafft, dass ich den Zuschlag bekomme. Was für ein Weihnachtsgeschenk. Ich kann es kaum fassen. Mein Gott, was für ein Glück du mir heute ins Haus bringst!“ Bähr, er streicht sich den geküssten Bart glatt, schaut auf das Dokument und warnt mit seinem ruhigen Bass: „Es wird nicht leicht, Gottfried. Der Rat hat immer große Wünsche, aber kleines Geld.“ Silbermann: „Und was will er von mir?“ Bähr schaut auf den Brief und zählt auf: „Im Haupt-Menual soll es vierzehn große und gravitätische Mensuren geben. Im Ober-Werk elf scharfe und penetrante. In der Brust neun liebliche und delicate, und im Pedal sieben starke und durchdringende Mensuren.“
Silbermann, ganz souverän: „Das ist alles kein Problem, George. Solche Forderungen werden wir tüchtig und dauerhaft erbauen und nach dem Kammer-Ton einrichten. Ich nehme die Pfeifen vom besten geschlagenen Zinn, fertige die Hölzer und Metalle.“ Bähr nickt zustimmend, schaut wieder in das Pergament und sagt: „Der Rat will, dass Du gutes, schwarzes Ebenholz nimmst und es mit Elfenbein zuarbeitest. Die Windladen sollen von bestem Eichenholz gemacht werden.“
Die Vorstellung, was da an Arbeit auf Silbermann wartet, lässt dessen Wangen rot werden, während er gierig auf jedes Wort von Bähr lauert, welcher jetzt lobt: „Der Rat stellt Dir großzügig in Dresden mit Deinen Leuten eine Wohnung zur Verfügung, für ein Jahr, kostenlos.“ Silbermann: „Und was zahlt er für die Orgel?“ Bähr liest vor: „Binnen drei Jahre, so Gott will, sollst Du die Orgel vollkommen fertig liefern. Dafür zahlt Dir der Rat viertausend und zweihundert Taler und zwar 2.000 Taler bei Vollziehung des Contracts, zur Anschaffung des Zinns 700 Taler.“
Gottfried Silbermann füllt noch einmal die Zinnbecher mit Glühwein voll und fragt: „Und was meinst du, George, welcher verständige Musicus soll meine Orgel in deiner Frauenkirche einweihen?“ George Bähr schaut Silbermann an und sagt verschmitzt: „Ich weiß, an wen du denkst?“ Silbermann lacht, trinkt Bähr zu und beide sagen gleichzeitig: „Johann Sebastian Bach!“
Es wurde noch eine lange Nacht, am 4. Advent 1732, in Freiberg, beim Orgelbauer Gottfried Silbermann, bevor George Bähr glücklich und zufrieden wieder nach Dresden zu seiner im Bau befindlichen Frauenkirche zurückkehrte.
Der Autor
Prof. Eberhard Görner wurde 1944 in Niederwürschnitz/Erzgebirge geboren. Ab 1970 war er Mitbegründer, Dramaturg und Autor der Reihe Polizeiruf 110 im Fernsehen der DDR. Für die Verfilmung als Drehbuchautor nach Literatur von Stephan Hermlin, Christa Wolf und Thomas Mann erhielt Eberhard Görner nationale wie internationale Auszeichnungen, wie auch nach 1990 für „Nikolaikirche“ in der Regie von Frank Beyer und für „Der neunte Tag“ in der Regie von Volker Schlöndorff.
Eberhard Görner arbeitet publizistisch wie literarisch seit seinem Bestseller „Ein Himmel aus Stein“ – 2005 im Chemnitzer Verlag erschienen – erfolgreich als Autor. Jüngst erschien im Claus Verlag sein Buch „Die erste Managerin des Erzgebirges – Das Leben der Rosina Schnorr“ (16 Euro im Buchhandel und im Onlineshop).